Stadtpolitik braucht neue Kraft
Plädoyer der Fachkommission Stadtentwicklung der Heinrich-Böll-Stiftung
A. Wirtschaftliche Umbrüche und Standortkonkurrenzen
B. Demografischer und sozialer Wandel
C. Suburbanisierung und Schwächung der Kernstädte
D. Anhaltende Finanzschwäche der Kommunen
Hauptproblem der Kommunen ist die häufige Überwälzung von Aufgaben durch den Bund und die Länder, ohne das Konnexitätsprinzip („Wer bestellt soll auch zahlen“) einzuhalten.
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E. Handlungsbedarfe
Bund, Länder und EU müssen neben den Anstrengungen zur Reform allgemeiner gesellschaftlicher Strukturen immer auch ein besonderes Augenmerk auf die Städte richten. Die Milliardentransfers von städtischer Steuerkraft in die Subventionierung von landwirtschaftlicher Produktion und Verkehr in der Fläche müssen aufhören, ebenso wie die Rückverlagerung der sozialen Ansprüche und Probleme aus der Fläche in die Städte,. Die politische Verantwortung für das Thema "Stadtpolitik" muss darum in neuer Weise auf allen politischen Ebenen eingefordert und gestärkt werden. Das heißt konkret:
(1) Stadtpolitik als Aufgabe in Bund und in den EU-Strukturfonds stärken
Die bundesstaatliche Zuständigkeit für Raumordnung, Siedlungspolitik und Wohnungspolitik steht in der „Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung" aktuell zur Disposition. Im Ergebnis könnte die Verantwortung für die Wohnversorgung in die Hände der Länder übergehen. Die Bundespolitik muss aber verstärkt Verantwortung für Raumordnung und Stadtpolitik übernehmen und hier sinnvolle Prioritäten setzen. Auch für die in den letzten Jahren entstandenen urbanen Landschaften und Stadtregionen sollten neue Planungskonzepte und Modelle entwickelt werden.
Bei der Ausgestaltung der EU-Strukturfonds für die Zeit ab 2006 ist bislang das Thema "Stadtpolitik" als eigenständiger Baustein verloren gegangen. Hier muss aktiv für die Sicherung einer Mindestquote der künftigen Strukturfondsmittel für integrierte stadtpolitische Programme wie das bisher sehr erfolgreiche URBAN-Programm gestritten werden.
2) Gemeindefinanzen reformieren und stärken
Nach wie vor steht eine grundlegende Gemeindefinanzreform aus. Diese muss auf der politischen Agenda bleiben und ist in der nächsten Legislaturperiode erneut in Angriff zu nehmen. Die finanzielle Belastungssituation ist - ungeachtet der regionalen und lokalen Unterschiede - in den Städten besonders ausgeprägt. Darauf muss die Reform der Gemeindefinanzen eine Antwort geben.
Mit Blick auf die wirtschaftsbezogene Gemeindesteuer plädieren wir für eine Neubelebung der Gewerbesteuer. Die Erweiterung des Kreises der Steuerpflichtigen und die Verbreitung der Bemessungsgrundlage bei gleichzeitiger Senkung der Hebesätze ist weiterhin notwendig.
Darüber hinaus wollen wir ausloten, inwieweit auch die Einkommensteuer Ansatzpunkte für eine stadtpolitisch sinnvolle Kommunalfinanzreform bietet – etwa durch die Einführung eines Hebesatzrechtes oder eine Neuaufteilung. Schließlich sind die Zentralörtlichkeit der Städte und ihre Versorgungsfunktionen für das Umland durch die Finanzausgleichsregelungen der Bundesländer besser zu berücksichtigen.
Als dritten Baustein brauchen die Gemeinden endlich die längst diskutierte Reform der Besteuerung von Grund und Boden. Dazu ist die Ablösung der bisherigen Einheitswerte durch eine neue Bemessungsgrundlage nötig, die Bodenwert und Flächenverbrauch angemessen berücksichtigt. Die Grundsteuer muss eine einfach zu handhabende und aufkommensstabile Steuer werden. Sie sollte den Kommunen Steuermehreinnahmen ermöglichen und erfordert Hebesatzrechte, die bebaubares Bauland mobilisieren.
Bund, Länder und Kommunen müssen gemeinsam darauf hinwirken, dass die konsumtiven Ausgaben wirksam begrenzt werden, insbesondere die Kosten für den Verwaltungsaufwand. Kurzfristig wirkende Hilfen könnten den Kommunen als Investitionspauschale zur Verfügung gestellt werden. Falls sich herausstellt, dass die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe keine klare Entlastung für die Kommunen bringt, dann muss hier nachgebessert werden. Bund und Länder müssen das Konnexitätsprinzip strikt beachten. Dies gilt aktuell besonders für die Kosten für Bildung und Kinderbetreuung.
Die interkommunale Kooperation in den Stadtregionen und zwischen den Städten ist zu intensivieren. Kostentreibende Bürgermeisterkonkurrenzen sind abzubauen. Die Vergabe von zweckgebundenen Investitionszuweisungen der Länder kann dazu an den Nachweis von interkommunalen Abstimmungen gebunden werden. Denkbar ist die Förderung von Regionalverbänden durch die Länder.
(3) Die Wirtschaftskraft der Städte stärken
Das Werben und Hoffen auf eine Unternehmensansiedlung wird immer seltener zur erfolgreichen Strategie werden. Immer wichtiger wird es, die eigenen Potenziale zu aktivieren, um daraus auch wirtschaftlichen Nutzen für die Stadt zu ziehen.
Auch die Wirtschaftsförderung von EU, Bund und Ländern muss sich zukünftig mehr als heute auf das „human capital“ in den Städten konzentrieren und mit Bildungsanstrengungen auf allen Ebenen verzahnt werden.
Themenbezogene Wettbewerbe und Leitprojekte wie Innoregio, BioRegio, "Mobilität in Ballungsräumen" bringen wichtige Impulse. So können unterschiedliche und regionalspezifische Identitätsmerkmale und Technologiecluster gefördert und entwickelt werden.
Den Städten sind größere Spielräume zur eigenverantwortlichen Gestaltung des Einzelhandels und des mittelständischen Gewerbes einzuräumen, die nicht nur planerische, sondern auch regulative Instrumente umfassen (Ladenschluss, Handwerksordnung, Bauweisen, Nutzungsmischung etc.), um lokale und auch ethnische Ökonomien zu stärken.
Den Städten muss mit der sie umgebenden Region ein stärkeres Miteinander im Bereich der Wirtschaft, des Verkehrs und der Kultur ermöglicht werden, was auch regionale Prioritätensetzung und regionale Finanztransfers ermöglicht.
Öffentliche Aufträge können - ohne das Wettbewerbsrecht zu verletzen - mit Anforderungen an innovative und auf Nachhaltigkeit zielende Produktentwicklungen verknüpft werden, die wiederum die eigene Wirtschaftregion stärken.
(4) Den sozialen Zusammenhalt der Stadtgesellschaft(en) fördern
Um Stabilität und sozialen Zusammenhalt in den „benachteiligten“ Quartieren zu erreichen, müssen Bund, Länder und Gemeinden die Instrumente für eine integrierte Quartierspolitik und für die Unterstützung von zivilgesellschaftlichem Engagement in wirksamerem Umfang als bisher bereitstellen.
Zur Beschäftigung und Integration von Langzeitarbeitslosen werden auf Dauer angelegte kommunale und gemeinnützige Betriebe gebraucht, z. B. für Nachbarschaftsdienste, Reparaturarbeiten, Grünpflege und soziokulturelle Projekte.
Die kommunale Wohnungswirtschaft muss in neuer Weise in die Pflicht genommen werden für die Wohnversorgung von bedürftigen Haushalten. Die Städte sollten gemeinsam mit ihren Wohnungsunternehmen und den Wohlfahrtsträgern stadtweite Konzepte einer sozialen Wohnraumversorgung erarbeiten und fortschreiben.
Schulen und Kindergärten müssen als Orte der Integration aufgewertet werden.
Stadtteile mit hohem Migrantenanteil brauchen Angebote zur Integration und zur multikulturellen Kooperation ebenso wie Raum für die Pflege eigener Kultur und Religion.
(5) Stadt als Lebens- und Wohnort stärken - Suburbanisierung einschränken
Das Leitbild „Stadt als Lebens- und Wohnort" muss neu positiv bestimmt und dem Bild des "Eigenheims im Grünen" offensiv gegenübergestellt werden.
Kommunalpolitik, Bürgerschaft und Hausbesitzer müssen konkret in den Stadtteilen prüfen, was mit vertretbarem Aufwand geleistet werden kann, um die Lebens- und Aufenthaltsqualität städtischer Quartiere für Wohnen, Arbeit und Freizeit zu verbessern, insbesondere für ältere Menschen und das Zusammenleben mit Kindern. Dafür müssen Bürger aktiviert und neuer Nachbarschaftsgeist geweckt werden.
Nötig sind Maßnahmen gegen Lärm, Unfallgefahren, Dreck und Kriminalität, privater und städtischer Raum für Grün, Spiel, Sport und Erholung muss qualifiziert werden. Die Städte brauchen endlich offensivere Strategien zur Begrenzung des Autoverkehrs, Verkehrlärms und der Stellplätze. Der Ausbau eines attraktiven öffentlichen Nahverkehrs, von Fuß- und Fahrradwegenetzen und moderne, intelligente Mobilitätskonzepte wie Citymaut, Car-Sharing, Call-a-bike, Rufbusse etc. sind dringend erforderlich.
Politisch sind eine Reihe von Maßnahmen nötig, wie insbesondere der Abbau von Subventionen, die die Zersiedelung begünstigen und ein neues Maß an Verbindlichkeit für eine Raumordnung, die den zunehmenden kommunalen Konkurrenzen bei sinkenden Einwohnerzahlen Einhalt gebietet.
Ohne eine Verringerung des Preisgefälles zwischen Neubauland, bereits erschlossenen Grundstücken und sanierungsbedürftigen Brachflächen wird es aber kaum zu einer wirklichen Wende im Siedlungs- und Verkehrsflächenverbrauch kommen. Denkbar sind drei Modelle: die Einführung eines Handels mit Flächenausweisungsrechten, die Ausweitung der naturschutzrechtlichen Ausgleichsmaßnahmen auch auf den Verbrauch von Bodenfläche oder eine Neuerschließungsabgabe, deren Einnahmen für Flächenrecycling eingesetzt werden könnte.
(6) Stadtumbau und Stadtrückbau fördern
Das Bund-Länder-Programm "Stadtumbau Ost" ist der erste Versuch, den Strukturwandel von Städten mit Bevölkerungsrückgang zu gestalten und Wohnungsüberschüsse abzubauen. Durch die Ausrichtung des Programms auf integrierte Stadtentwicklungskonzepte wird der Versuch gemacht, städtebauliche und wohnungswirtschaftliche Belange miteinander zu verknüpfen. Allerdings wird der Stadtumbau bislang vorwiegend als wohnungswirtschaftliches Thema behandelt. Der Umgang mit Wirtschafts- und Infrastrukturbrachen bleibt der privaten und kommunalen Initiative überlassen.
Auch wenn die Zielkonflikte zwischen Eigentümerbelangen und städtebaulichen Ansprüchen oft nur schwer zu lösen sind, muss der Stadtrückbau noch stärker als bislang auf die Stabilisierung und die Stärkung des Wohnens in den Innenstädten und den Altbauquartieren ausgerichtet werden. Dazu müssen Wohnwertsteigerung, Wohnumfeldverbesserung und Eigentumsbildung in den innerstädtischen Quartieren gezielt vorangetrieben werden, wo nötig auch durch Entdichtung und die Schaffung von Lücken. Infrastrukturentscheidungen ebenso wie private Standortentscheidungen müssen zugunsten der Kernstädte gefällt werden.
Viele ostdeutsche Klein- und Mittelstädte werden keine neue wirtschaftliche Basis finden. Darum müssen für die „Entleerungsregionen“ Orte definiert werden, die auch im Rückbau bei sinkender Bevölkerung die wichtigsten regionalen Infrastrukturen aufrechterhalten, v. a. auch in den Bereichen Bildung, Gesundheit, soziale Dienste und öffentlicher Nahverkehr.
Westdeutsche Städte werden in den nächsten Jahren ebenso verstärkt auf Stadtumbau angewiesen sein - auch, wenn dies hier sehr viel langsamer erfolgen wird als in Ostdeutschland und mehr Umbau und Aufwertung als Rückbau sein werden. Neben der Wiederaufbereitung älterer Industriebrachen bestehen hier die Hauptaufgaben darin, ältere Siedlungen neuzeitlichen Wohnstandards anzupassen.
Der Stadtumbau erfordert kommunalpolitische Weichenstellungen, die besonders für die konkret Betroffenen, sowie auch für die ganze Stadtgesellschaft von grundlegender Bedeutung sind. Die Ziele und Maßnahmen dürfen darum nicht hinter verschlossenen Türen ausgehandelt werden. Soll der Prozess des Stadtumbaus positiv gelingen, ist die Mobilisierung aller bürgerschaftlichen Kräfte wesentliche Voraussetzung.
Stadtumbau und Stadtrückbau müssen weitgehend privatwirtschaftlich erfolgen. Dennoch wird ein gewisses Maß an Förderung unabdingbar sein, v. a. auch für die Sicherung von Infrastrukturen bei rückläufiger Bevölkerung. Daraus folgt zwingend, dass andere unnötige Subventionen abgebaut und umgewidmet werden.
Zentrale Voraussetzung für den Stadtumbau und Rückbau ist ein Mentalitätswechsel. Bislang ist eine mentale Kontinuität festzustellen, die einseitig auf Wachstum setzt. Von zunehmender Bedeutung ist aber gerade die Auseinandersetzung mit "Nichtwachstumsprozessen" und mit „Schrumpfung“.
(7) Moderne Verwaltung und Bürgerengagement miteinander verbinden
Die Stadt ist Ursprungsort der demokratischen Bürgergesellschaft. Heute jedoch sind Bindungskraft und Vertrauen zwischen kommunaler Politik und Bürgerschaft so schwach ausgeprägt wie selten zuvor. Vielerorts wird mittlerweile der Ruf nach Stärkung der Zivilgesellschaft und nach ihrer intensiveren Einbindung in kommunal-staatliches Handeln laut – häufig jedoch mit dem Hintergedanken, bürgerschaftliches Engagement als Ersatz für die Defizite des Staatshandelns zu instrumentalisieren.
Wesentliche Aufgaben der Stadtpolitik ist die Entwicklung einer glaubwürdigen Partizipationspolitik, der es gelingt, die vorhandene Verantwortungs- und Mitwirkungsbereitschaft der Bürger für die Stadtentwicklung fruchtbar zu machen.
Gerade auf kommunaler Ebene muss Verwaltung neu definiert werden und vom Obrigkeitsdenken verhafteten Behörden zur Dienstleistungsverwaltung für die Stadtgesellschaft transformiert werden. Die Modernisierung des öffentlichen Dienstrechts ist Voraussetzung für eine moderne Verwaltung, die die Anliegen ihrer Bürger nicht primär zu behindern, sondern zu ermöglichen sucht. Über E-Government-Angebote wird der kurze Draht zu Bürgern und Unternehmen praktisch möglich.
Werden die Barrieren zwischen Bürger und Verwaltung abgebaut, so kann und wird es auch gelingen, neues Bürgerengagement zu mobilisieren.
Berlin, den 14. Juli 2004
Rainer Bohne, Brigitte Dahlbender, Franziska Eichstädt-Bohlig, Andreas Feldtkeller, Klaus-Martin Groth, Klaus Habermann-Nieße, Winfried Hammann, Christine Hannemann, Hartmut Häußermann, Ilse Helbrecht, Detlev Ipsen, Martin Junkernheinrich, Brigitte Karhoff, Dieter Läpple, Maxi Malzahn, Carsten Meyer, Philipp Oswalt, Thomas Rommelspacher, Carola Scholz, Joachim Stein